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Gespräch mit Jesper Juul

Vergessen Sie sich selbst nicht!

Nicole Troxler, Gründerin und ehemalige Präsidentin des Vereins Schreibabyhilfe und Familylab-Seminarleiterin hat ein Gespräch
mit Jesper Juul, dem bekannten dänischen Familientherapeuten
und Gründer von Familylab, geführt. 

Wenn Babys viel schreien, taucht immer die Frage nach dem Warum auf.

„Was fehlt meinem Baby?

Wieso weint es so viel?

Was kann ich tun?“

Diese Fragen quälen Eltern, denn sie wollen nur das Beste für ihr Kind. Kann diese Frage nicht beantwortet werden, werden die Eltern schnell hilflos, fühlen sich schuldig, weil es Ihnen nicht gelingt, ihr Baby zu beruhigen.

 

Jesper Juul meint dazu, dass es sicherlich hilft, wenn man einen vermeintlichen Grund findet und dem Baby helfen kann, aber seiner Meinung nach muss das nicht unbedingt DIE Ursache sein.

Wenn Eltern sich aus ihrer Ratlosigkeit befreien und wieder aktiv werden können, kommen sie aus dieser Blockade heraus und das allein hilft schon.

Die Idee von Juul ist, dass Babys manchmal gerne zu Ihren Eltern sagen würden: „ Liebe Eltern, es ist gut mit dieser Aufmerksamkeit, dass ihr beide Euch um mich kümmert, aber es ist mir zu viel, ich hätte gerne meine Ruhe.

Ich kann nicht so viel Kontakt vertragen.“ 

 

Ich hatte selbst ein Schreibaby und kann aus heutiger Sicht gut nachvollziehen, was Juul meint. Es war mir damals unmöglich, mich um etwas anderes zu kümmern, als um mein schreiendes Kind. Es stand absolut im Fokus. An Hausarbeit, Sport oder sonstige Aktivitäten war nicht zu denken.

 

Aber wie kann es gelingen, aus einer solchen Krise herauszukommen?

 

Jesper Juul betont, wie wichtig es ist, sich Hilfe zu organisieren.

Hilfe heisst Entlastung, Entspannung und die Möglichkeit, über die derzeitige Situation zu reden. In den ersten Wochen versuchen Eltern ihrem Baby Geborgenheit und Sicherheit zu geben. Wenn dann die Unsicherheit wächst, weil es nicht gelingt, das Baby zu trösten, beginnt ein Teufelskreis. Dieser Teufelskreis muss unterbrochen werden.

Aber wie? Oft ist es schwierig, das Baby fremdbetreuen zu lassen, weil es bei der Mutter ein schlechtes Gewissen weckt, wenn das Baby beim Abgeben weint.

 

Jesper Juul erklärte mir, wie Eltern den Unterschied zwischen den verschiedenen Arten zu weinen, erkennen lernen:

Ein Baby kann unglücklich sein und sagen wollen: „Mami ich wäre einfach lieber mit dir zusammen als mit der fremden Frau.“

Dieses Weinen ist Ausdruck einer völlig normalen Reaktion auf eine alltägliche Situation, es ist Teil des Lebens und wird schnell enden, wenn die Mutter gegangen ist.

Dann gibt es Trennungsängste. Dieses Weinen ist Ausdruck von Urängsten.

Es kommt tief aus dem Bauch. Dann ist es vielleicht zu früh für eine Fremdbetreuung.

Eine dritte Form des Weinens drückt nichts anderes aus als den Wunsch

nach Kooperation mit der Mutter, die ihr Kind nicht abgeben will/kann, weil sie ein schlechtes Gewissen hat. Kooperation heisst in diesem Fall, das Baby spiegelt die inneren Zweifel der Mutter.

Juul sagt: “Dann fängt das Kind an zu kooperieren, klammert sich an die Mutter und will die Mutter trösten. Und dann gibt es eine riesige Verwirrung; wer braucht wen für was? Darum ist diese Trennung für ein paar Stunden sehr wichtig.“ 

 

Wie sollen sich Eltern von Schreibabys unter diesen Bedingungen verhalten?

Dürfen sie guten Gewissens ihr Baby für einige Stunden abgeben auch wenn es Verlassenheitsängste hat?

 

Was ist höher zu gewichten, fragte ich Jesper Juul. Die Trennungsangst des Babys oder das Bedürfnis der Mutter, einen Weg aus der Krise zu finden? Die ganz klare und knappe Antwort lautete: „Die Mutter! Hier müssen die Eltern überleben, das ist einfach wichtiger.“ 

 

Einen treffenden Vergleich, den ich einmal gelesen habe und gerne den Eltern mit auf den Weg gebe, ist die Situation im Flugzeug. Ich habe lange nicht verstanden, warum in einem Notfall zuerst der Erwachsene die Atemmaske überziehen und erst dann dem Kind helfen muss.

Heute ist es mir klar; verliert der Erwachsene das Bewusstsein, weil er die Maske zu spät anzieht, kann er dem Kind auch nicht mehr helfen.

Jesper Juul betont, wie wichtig es ist, sich um sich selbst zu sorgen. Klar gehe das nicht immer, aber es sei wichtig, in sich zu wissen ‚Ja mein Baby, ich bin hier für dich, ich würde aber lieber schlafen’. Diese Zentrierung – ich bin auch wichtig – sei essentiell. Heute ist die Meinung verbreitet, dass nur, wenn sich Mami und Papi intensiv mit dem Baby/Kind beschäftigen, sie gute Eltern sind. Juul sagt dazu: „In anderen Kulturen gehen die Mütter immer mit den Babys herum und arbeiten auf dem Feld, im Wald, in der Küche. Die sitzen nicht da und ‚kümmern’ sich um die Babys. Das ist ein grosser Unterschied.

Heute nennen Mütter das Vernachlässigung, wenn man sich nicht mit dem Kind beschäftigt, aber das ist es nicht. Das ist genau, was Babys und Kinder brauchen. Die brauchen Eltern, die wissen, was sie machen und die Botschaft erhalten  ‚Du bist mir wichtig, aber essen, schlafen, arbeiten ect. ist mir auch wichtig. Ich verschwinde nicht aus deinem Leben, du brauchst keine Angst zu haben, aber ich habe andere Dinge, die mich auch beschäftigen.

 

Das Gespräch hat mir klar gemacht: Es ist wichtig, sich selbst nicht zu vergessen, die Aufmerksamkeit etwas weg vom Baby zu nehmen und sich Entlastung zu organisieren.

Es liegt mir am Herzen zu betonen, dass weniger Aufmerksamkeit nicht gleichbedeutend ist mit das Baby alleine schreien zu lassen. Niemand will zurück in die Zeit, als Kinder stundenlang alleine schreien mussten. Weniger Aufmerksamkeit heisst, dass die geistige Konzentration auch auf etwas anderes gerichtet sein darf, wenn das Baby bei der Mutter oder dem Vater ist. Sie sind wichtig! Tragen Sie Sorge zu sich selbst! Haben Sie den Mut über Ihre Anspannung zu reden und tauschen Sie sich aus.

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