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Interview mit Dr. med. Wüthrich, Inselspital Bern

Dr. Ch. Wüthrich ist leitender Arzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Leiter der Kinderschutzgruppe am Inselspital Bern. Wenn erschöpfte Eltern von Schreibabys mitten in der Nacht im Notfall ankommen und nicht mehr weiter wissen, wird er beigezogen. Liegen keine gesundheitlichen Gründe für das exzessive Schreien vor, klärt er mit den Eltern wie alles begann und bespricht mit Ihnen mögliche Lösungen.

Troxler: Was ist Ihrer Erfahrung nach der Grund für das exzessive Schreien?

Wüthrich: Es sind häufig leicht irritierbare Babys, die sich schlecht beruhigen lassen. Und dann beginnt oft derselbe Kreislauf: Die Eltern merken, „wenn ich das Baby trage, stille oder auf anderer Art ablenke, beruhigt es sich“. Das ist aber nur eine kurzfristige Lösung. Oft beginnt eine unglaubliche Hektik zwischen Mutter/Vater und dem Kind. Die Babys schlafen viel zu wenig, sind ständig überreizt, ständig stimuliert und kommen gar nicht zur Ruhe.

Sind das die Kinder mit Regulationsstörungen?


Ja, genau. Kinder mit Regulationsstörungen erschrecken schneller, haben es nicht gerne laut oder haben Schwierigkeiten, sich an neue Situationen anzupassen. Diese Kinder finden selber schlecht zur Ruhe und sind eher nervös, häufig auch körperlich angespannt und können schlechter loslassen.


Was ist Ihre Meinung zu den Dreimonatskoliken? Gibt es die?


Natürlich ist es so, dass ein Kind, das zur Welt kommt sich an Unmengen von Neuem gewöhnen muss. Es muss plötzlich atmen, schlucken, es ist plötzlich hell und dunkel, es muss sich an den Wechsel von Kälte und Wärme gewöhnen. Und eben an die Nahrungsaufnahme. Es kann auch eine Rolle spielen, was die Mutter isst. Das wirkt sich auf die Verdauung aus. Ich bin überzeugt, dass sich der Magen-Darm-Trakt an die Nahrungsaufnahme und an die Inhaltsstoffe gewöhnen muss, und dass das seine Zeit dauert. Viel wichtiger jedoch finde ich die Frage was danach passiert.


Das heisst, es gibt verschiedene Einflüsse, die das Kind unruhig oder unwohl werden lassen, seien es Regulationsstörungen, eine erhöhte Sensibilität, die Gewöhnung an die Nahrungsaufnahme oder auch ein Geburtstrauma. Jedoch ist es demnach wichtig, wie die Eltern dann darauf reagieren?


Ja, genau. Man kann ganz klar sagen: Auch wenn die Ursachen der Schreiattacken unterschiedlich sind, benötigen viele Kinder dieselbe Therapie; Häufig einfach mehr Struktur statt einem heillosen Chaos. Häufig ist es verrückt zu sehen, was passiert, wenn ich Eltern damit beauftrage, ein Schrei-/Schlafprotokoll auszufüllen. Einfach ein totales Durcheinander. Da gibt es keinen Rhythmus, keine festen Schlafens- oder Fütterungszeiten – und jeden Tag ist es anders. „Auch wenn die Ursachen der Schreiattacken unterschiedlich sind, benötigen viele Kinder dieselbe Therapie. Häufig einfach mehr Struktur.“ 


Was empfehlen Sie Eltern, um diesen Kreislauf zu durchbrechen?

Wir besprechen mit den Eltern wie alles angefangen hat und erklären, wie der Kreislauf zustande gekommen ist. Und dann heisst es: Alles zurück. Ruhig bleiben, nicht herumlaufen mit dem Kind, vielleicht einmal im Bettli lassen, selber keine Angst haben, es sei etwas nicht in Ordnung. Das führt in der Regel innert kurzer Zeit zu einer Beruhigung.

Hören die Eltern das nicht als Vorwurf? Ich hatte auch ein Schreibaby, und im Hinterkopf hatte ich immer den Gedanken „ich bin schuld“. Und wenn dann jemand kommt, der sagt: „Du musst ruhig bleiben.“, das wäre für mich schwierig gewesen.

 

Es gibt Kinder, die sind ruhig, schlafen überall ein und sind einfach zu beruhigen. Dann gibt es Kinder, die schlafen z.B. nur im eigenen Bett, oder wenn die Mami da ist. Sie sind leichter irritierbar und beruhigen sich nur schwer. Das ist der Charakter des Kindes und nicht die Schuld der Eltern. Mit dem Kind ist nichts falsch, mit den Eltern ist nichts falsch, es hat sich einfach eine unglückliche Interaktion ergeben. Einige Kinder schaffen es selber eine Struktur zu schaffen, andere nicht. Und da braucht es die Eltern, die Struktur geben, die den Rahmen schaffen. Sie sind Taktgeber, wie der Dirigent im Orchester.


Wie sieht das praktisch aus? Sie sagen den Eltern quasi, sie sollen mit ihrem Kind nicht mehr so viel Interaktion machen, z.B. nicht mehr so viel herumtragen, schöppelen, sondern vielleicht mal liegen lassen? Das Baby ist ja dann nicht von Anfang an ruhig, es braucht ja dann einen Moment. Heisst das, Eltern müssen lernen auszuhalten, dass das Baby weint? Es auch einmal einen Moment schreien lassen?


Es geht nicht darum, das Baby stundenlang schreien zu lassen. Es ist kein Vergleich zu vergangenen Generationen, als man Babys unbeaufsichtigt über längere Zeit schreien liess. Es geht darum, dem Kind einen kurzen Moment die Gelegenheit zu geben, sich selbst zu beruhigen. Und wenn es nicht gelingt, sind die Eltern gleich wieder da. Ich frage die Eltern immer: „Sind sie bereit, kräftemässig bereit, das zu tragen? Es wird einen Moment dauern, und sie schaffen es nicht, das zu verändern, wenn sie es innerlich nicht können." Wenn die Eltern sagen, sie können das nicht, dann nehmen wir das Kind stationär auf und machen das da. Und wenn sie sagen: „Das schaffen wir.“ Dann begleiten wir die Eltern eng, häufig telefonisch. Es braucht dann gar nicht mehr so viel.

 

Was sagen Sie den Eltern konkret? Ich höre die Eltern förmlich sagen: "Aber ich kann es doch nicht schreien lassen." Bleibe ich beim Kind? Lasse ich es alleine? Wie lange lasse ich es liegen?

 

Wenn die Eltern begriffen haben, worum es geht, und wenn sie selber sagen, es muss sich etwas ändern, dann sind sie häufig bereit. Und wenn Eltern sagen, ich schaffe das nicht, dann nützt es auch nichts. Und dann sage ich: „Schauen wir mal, wie viel Ruhe und wie viel Rhythmus es hat. Wie könnte man da eine bessere Situation schaffen?" Z.B. Läuft der TV oder Radio nebenan, sind andere Kinder da, ist es hektisch, könnte man das in einem Raum machen, der ein wenig abgedunkelt ist? Kann ich im Vorfeld mit dem Kind etwas machen, das nicht so aufregend ist? Manchmal kommt z.B. der Vater um 18 Uhr nach Hause und will mit dem Kind spielen. Dann ist es schwierig, das Kind um 19 Ihr ins Bett zu bringen. Und dann geht es darum, das für einen gewissen Moment auszuhalten, wenn immer möglich das Kind nicht aus dem Bett zu nehmen. Ich sage häufig: „Geht rein zum Kind, auch zu eurer Beruhigung. Redet mit dem Kind und sagt ihm, dass es jetzt schlafen soll, dass es im Moment halt etwas schwierig ist, und dann geht wieder raus.“ Manche schaffen das nicht und nehmen dann das Kind doch auf, aber dann sollen sie das Kind nicht ablenken mit Mobile und so, sondern in einem abgedunkelten Raum bleiben. Das vorgängige Vorgehen und der Rhythmus sorgen schon für etwas Beruhigung.

 

Hat es ihrer Meinung nach die gleiche beruhigende Wirkung auf die Interaktion wenn ich sage: „Also gut, ich hör auf herumlaufen und setze mich hin mit dir im Arm, und mehr kann ich nicht machen, und es ist okay, wenn du schreist.“

 

Wenn die Mutter ruhig ist, dann ja. Wenn die Mutter das mit dem Kopf sagt und einen Puls von 150 hat, ist es nicht optimal. Es geht nicht darum, das Kind eine Stunde schreien zu lassen. Ich frage Eltern: „Wie lang können Sie das Kind schreien lassen?“ - Antwort: „10 Minuten“ – Da sage ich: „Probieren Sie es mal! Nach 30 Sek. bis 1 Minute ist Schluss, da fängt es an zu kribbeln.“ Man muss klar sagen, was möglich ist.

 

Schultes: Ab wann sind Kinder von der Entwicklung her so weit? Ich habe gehört, dass man sagt, nach 4-6 Wochen kann man anfangen, das Kind sich selbst regulieren zu lassen. Gibt es ein gewisses Alter, eine Regel?

 

Es gibt Kinder, die schlafen schon in den ersten Wochen durch. Das Kind braucht am Anfang vom Stoffwechsel her ca. alle 4 Stunden etwas zu essen. Kinder wachen auf, weil sie Hunger haben. Man kann sicher sagen: Ab 3 – 6 Monaten ist der Stoffwechsel so stabil, dass es nachts nicht wegen Hunger aufwacht. Man kann nicht sagen „ab einem gewissen Alter“. Es geht darum, zu spüren, was vom Kind her kommt.

 

Wie ist das mit dem Thema Urvertrauen? Es gibt die These, dass das Schreinenlassen das Kind nachhaltig Urvertrauen kosten kann.

 

Urvertrauen lässt sich unter zwei Aspekten betrachten; das Vertrauen in die Welt, in äussere Gegebenheiten und das Vertrauen in sich selbst. Wenn eine Mutter ihrem Baby nun die Gelegenheit gibt, sich selbst zu beruhigen, stärkt das auch das Selbstvertrauen. Gelingt es dem Baby nicht, sich selbst zu beruhigen, und die Mutter ist nach einem Moment wieder da, gewinnt es das Vertrauen, dass immer wieder jemand kommt und es nicht alleine ist. Wenn das Kind nach 3 Nächten viel besser schläft und nicht mehr schreit, ist die Frage, ob diese 3 Nächte ein langfristiges Problem ergeben. Eltern leben zwanzig Jahre mit ihren Kindern zusammen und haben viel Zeit, das wieder gut zu machen. Es ist wie der Start ins Leben, der manchmal nicht so gelingt wie erwünscht, z.B. ein Kaiserschnitt oder das Stillen funktioniert nicht. Deswegen ist nicht gleich alles verloren.

Troxler: Sie hatten vorher erwähnt, dass sie Babys auch stationär aufnehmen?

 

Ja, manche Eltern kommen mitten in der Nacht in den Notfall, andere werden vom Kinderarzt überwiesen.

Bleibt das Baby alleine im Spital, oder kann die Mutter ebenfalls bleiben? Die Babys sind ja noch klein und werden oft noch gestillt. Mir wurde damals auch angeboten, mein Baby im Spital zu lassen. Ich dachte, das geht ja nicht, ohne mich, mein Kind hat ja dann nichts zu essen.

 

Das entscheiden wir situativ und im Gespräch mit den Eltern. Es ist einfach wichtig zu klären, wer welche Rolle hat. Die Pflegende übernimmt das ganze Management mit dem Baby, die Mutter stillt das Kind und soll sich ausruhen, d.h. sie kann in einem anderen Raum schlafen. Es ist wichtig, dass die Eltern Vertrauen in uns haben.

 

Wann kommen denn die meisten Eltern zu ihnen? Ist das mit Babys zwischen Geburt und 3 Monaten, oder sind es eher Eltern mit älteren Kindern?

 

In den ersten drei Monaten kommen die Eltern selten. Die Eltern haben dann vermutlich die Theorie von den Drei-Monats-Koliken gehört und denken dann, das sei ja absehbar, und dass sie das schaffen können. Die meisten Eltern kommen später mit ihren Kindern, mit sechs oder sieben Monaten – mit unstillbar schreienden Babys. Explizit wegen Schlafstörungen kommen die Eltern noch später, das heisst ungefähr dann, wenn das Kind 16 oder 17 Monate alt ist. Also viel zu spät. Ich kann mich an eine Mutter erinnern, die mit einem 18 Monate alten Kind gekommen ist. Sie ist noch immer jede Nacht zwischen vier und zehn Mal nachts aufgestanden wegen ihrem Kind. Irgendwann stand sie um sechs Uhr morgens in der Notfallstation und meinte dann, dass sie einfach nicht mehr könne. Dieses Kind wurde nach drei Tagen auf unserer Station ohne seine Schlafstörungen wieder entlassen. Ich bin der Meinung, dass die Eltern früher kommen sollten. Die Mütter stellen halt auch den Anspruch an sich selber, dass sie das selber auf eine gute Art und Weise selber schaffen müssten. Die Hürde, Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist enorm gross.

 

Wie ist Ihre Erfahrung: Sind häufiger Erstgeborene Schreikinder, oder sehen Sie kein Schema?

 

Das erste Kind hat einfach deutlich mehr Aufmerksamkeit. Schauen Sie einmal, wie viele Fotos Sie vom ersten Kind gemacht haben. Beim Ersten führt man noch Tagebuch. Man gibt dem ersten Kind viel mehr Aufmerksamkeit. Wenn das dritte Kind da ist, und man nicht weg kann, haben die Kinder viel mehr Zeit, etwas selber zu lernen und Erfahrungen zu machen, als wenn man immer Zeit hat. Man traut den Kindern sofort mehr zu – und sich selber. Ich sage den Eltern: "Sie haben die Pflicht, zu schauen, dass es Ihnen gut geht." Das hat eins zu eins Einfluss auf das Kind. Ich schicke sie zum ,Gutgehen‘ in die Stadt.

 

Heute gibt es keine allgemein gültigen Regeln mehr, wie z.B. früher ‚man’ stillt alle vier Stunden usw. Erschwert dies auch das Elternsein?

 

Ja, da ist sicherlich eine grosse Verunsicherung bei den Eltern. Sie wissen nicht mehr, was sie glauben sollen. Was verloren geht, ist die eigene Intuition. Ich bin davon überzeugt, dass Eltern eigentlich wissen, was ihrem Kind gut tut, sie aber durch die ganzen Anweisungen nicht darauf vertrauen. Eltern spüren häufig schon, was ihr Kind braucht, die Frage jedoch ist, ob sie sich auch trauen, das zu machen. Jedoch ist es sicher gut, dass heute, im Gegensatz zu früher, viel mehr auf das einzelne Kind und dessen Bedürfnisse eingegangen wird. Dazu gehört auch das Stillen, wenn das Kind Hunger hat. Das wiederum macht es den Eltern schwerer, richtig abzuschätzen, wann das Kind z. B. die nächste Mahlzeit bekommen soll. Diese allgemein gültigen Regeln von früher haben es den Eltern auch einfacher gemacht. Plötzlich wird erwartet, dass die Eltern ihr Kind verstehen sollen. Das fordert den Eltern viel mehr ab.
 

Wie gelingt es Ihnen, diese Eltern in ihrer Intuition zu stärken?

Ich versuche, die Eltern darin zu bestärken, wieder auf Ihre innere Stimme zu hören und danach zu handeln. Wenn dann Erfolgserlebnisse folgen, ist meist schon viel getan.

 

Sehen sie einen Zusammenhang mit einem Kulturwechsel? Früher wurden Babys schreien gelassen, heute nicht mehr. Früher wurde nach der Uhr gestillt, heute nach Bedarf.

Ich erinnere mich, als ich früher auf den Säuglingsstationen gearbeitet hatte. Das Schreien hat so einen Aufforderungscharakter etwas zu tun, dass man wirklich viel Nerven braucht, um das Baby liegen zu lassen und nichts zu machen. Also ich habe das nicht geschafft, ich habe ja auch drei Kinder. Von daher ist es sicher ein Kulturwandel. Kinder haben in der heutigen Gesellschaft eine ganz andere Bedeutung bekommen als früher. Früher war jeder Bauer froh, wenn er sechs Kinder hatte, da sie mithelfen konnten. Heute hat es viel mit dem Selbstwert von Eltern zu tun, ein gesundes, tolles, gescheites Kind zu haben.

 

Schultes: Wie erklären sie sich, dass Babys in anderen Kulturen, wo sie viel getragen werden und alle Familienmitglieder im selben Raum schlafen, seltener oder gar keine Schreibabys sind?

 

Ja, es ist erstaunlich. In Bali fällt einem auf, dass man nie Kindergeschrei hört. Die Frage ist, wie ein Kind eingebettet ist, wie seine Position in der Familie ist. Sie nehmen am Leben teil, werden getragen und kommen mit aufs Feld. Alleine das kann bereits mehr Sicherheit und Rhythmus bieten. Es eine ganz anderer Ruhe dort. Das Leben kann aber nicht mit dem Leben bei uns verglichen werden. Wir leben in einer anderen Kultur. Babys und Kleinkinder können nicht auf dieselbe Art in den Alltag eingebunden werden wie bei Völkern, die naturnah leben. Unser Alltag ist viel zu hektisch. Familie, Arbeit, Hobbies, hektische Abschiede, frühes Aufstehen für die Krippe, alles schnell, schnell. Und ich bin sicher, dass das ein grosser Teil ist, der dazu führt, dass Kinder nicht gut lernen können, sich selber zu regulieren, sich selber zu beruhigen.

 

Troxler: Nun haben wir viel Hilfreiches von ihnen gehört. Können Sie uns die drei wichtigsten Punkte nochmals zusammenfassen?

1. Die Eltern sind nicht schuld daran, dass ihr Baby so viel schreit. Es ist eine       Mutter/Vater- Kind - Interaktion, die sich unglücklich entwickelt hat.

2. Es braucht einen Rhythmus, was das Schlafen und die Mahlzeiten angeht.

3. Das Kind nicht zu viel stimulieren, sondern die gesamte Umgebung ruhig gestalten.

 

Das Interview mit Herrn Dr. Wüthrich führten Nicole Troxler und Susanne Schultes vom Verein Schreibabyhilfe.

 

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